Text und Recherche: Dr. Sibylle Berger

Das Leinweberhaus – „Stoff für Geschichte(n)“

Die Historie der Leinweber in Gingst im 18. Jahrhundert begann mit der damals revolutionären Freisprechung der örtlichen, kirchlichen Leibeigenen durch Präpositus Johann Gottlieb Picht (1736 -1810). Darauf erfolgte die Innungs- bzw. Amtsgründung. Damaststoffe wurden eine Gingster Spezialität. Mit der Weberei eng verbunden ist die Leinen- und Wollgarn-Herstellung. Ein aktueller Aspekt der damals im Alltag benutzten Materialien ist ihre Nachhaltigkeit. Dies und die Komplexität des Weberhandwerks mag ein Rundgang durch die einstigen Arbeits- und Wohnräume der Weber vor Augen führen.

1. Das Gebäude: Neuer Sitz der Weberinnung mit Aushängeschild

Das Haus diente von 1779 bis 1912 Webern als Wohnung und Werkstatt. Ein Aushängeschild der Innung machte dies sichtbar. Bis 1888 lebte hier der Innungsmeister (Altermann) mit Familie. Im Dachgeschoß musste auch noch die Gesellenfamilie Platz finden. Hier war Leben und Arbeiten auf engstem Raum angesagt: Weben, Verkaufen, Flachstrocknen, Kochen, Essen und Schlafen (Abb.: Grundrisse). In dem beiden großen Räumen, rechts und links der Mitteldiele, dem Verkaufsraum, standen mindestens je zwei Webstühle. Ab 1971 wurde das Haus zum Museum.

1.1 Bauen mit ökologischen Rohstoffen: Früher alternativlos, heute alternativ

Das in seiner heutigen Ansicht 1779 eingeweihte Weberhaus besteht aus regionalen Baustoffen: Holz, Feldsteinen, Lehm (Ziegel) und Reet. Diese Materialien sind wieder rückführbar in den Naturkreislauf. Gleiches gilt auch für die früher im Haus verarbeiteten Fasern: Flachsanbau und Schafzucht vor Ort lieferten Leinen und Rohwolle (Abb.: Probentafel). – Heute wäre „Bio“ oder „ C2C“ („Cradle to cradle“, „von der Wiege zur Wiege“) ein Kürzel für die umweltfreundliche Kompostierbarkeit solcher Produkte.

1.2 Über 250 Jahre Weberamt Gingst: Faire Regeln

Ein Leuchter in der Gingster Kirche, gestiftet von den hiesigen Webern, zeigt die Jahreszahlen 1630 und 1779. Sie verweisen auf das erste und zweite Gründungsdatum ihrer Innung: Diese Handwerkervereinigung wurde nach dem 30-jährigen Krieg aufgelöst und dann wiederbelebt. Sie bestand bis 1888. Die Verordnungen der Innung regelten die Arbeits-, Geschäfts- und Lebensbedingungen der Weber. Das waren quasi historische „Fair Trade (Handel)“- Grundsätze. Um den Zusammenhalt zu festigen, gab es gemeinsame Rituale und Zeichen wie den Innungspokal, die Innungstrinkbecher, das Innungsschild oder die -Innungslade.

1.3 Ausgetretene Treppenstufen: Materialisierte Geschichte

Die ehemals gerade ins Dachgeschoss führende Treppe hat heute keine Funktion mehr. Aber als Ausstellungsobjekt demonstriert sie den „Zahn der Zeit“: Die im Wechsel rechts und links ausgetretenen Stufen zeigen, wie über zwei Jahrhunderte die Bewohner immer mit demselben Fuß zuerst vorangegangen sind. Das so abgenutzte Holz ist materialisierte Zeit. Abstrakt dagegen sind die Geschichtszahlen der Tabelle daneben. Sie beinhaltet wichtige historische Ereignisse in Europa, wie die „Französische Revolution“, die im Bezug zu den Gingster Webern stehen.

2. Lokalgeschichte: Mit Präpositus Picht und königlicher Erlaubnis werden Leibeigene zu freien Webern

Das Wiederaufleben der Weberinnung in Gingst ist eng mit der Amtszeit des Präpositus Johann Gottlieb Picht (1736 -1810) verbunden. Der Theologe und Sozialreformer erreichte es, mit Zustimmung des Schwedischen Königs, die Freisprechung der Leibeigenen seines Pastorates durchzusetzen. Damit waren diese aber unversorgt. Für eine Broterwerbsmöglichkeit erneuerte Picht die Weberinnung in Gingst. Eine Spezialität waren die Damastmuster. Picht sorgte auch für Schulreformen. Weben und Spinnen gehörten zum Unterricht.

2.1 Historische Webstühle: Für Profi- und „Zubrot“-Weberei

Die beiden Webstühle in den Räumen rechts und links neben der Verkaufsdiele stammen aus der Zeit um 1800. Man kann auf ihnen komplizierte Muster weben, aber keinen Damast. Diese Modelle wurden sowohl von den Berufswebern der Innung genutzt als auch von den Bauern und Fischern des Umlandes für das Weben als Winterarbeit. Diese diente entweder dem Eigenbedarf oder sie war ein „Zubrot“. Die Nachfrage war groß, so waren beispielsweise Segel und Tapetenuntergründe aus Leinwand.

2.2 Damast: Baumaßnahmen für Luxusstoffe

Präpositus Picht erneuerte nicht nur die Gingster Weberinnung, sondern führte auch das Damastweben ein. Das war ein Alleinstellungsmerkmal in der Region. Figürliche Muster, scheinbar unabhängig vom rechtwinkligen Verlauf von Kette und Schuss, sind das Erkennungszeichen dieses aufwendigen Stoffes. Der Name „Damast“ leitet sich her von der syrischen Herkunftsregion um Damaskus. Für die komplizierte Herstellung wird ein besonders hoher „Zampel“-Webstuhl mit Musteraufsatz benötigt. Entsprechend wurde in diesem Raum die Decke erhöht.

2.3 Flachs/Leinen: Vom Saatkorn zur Faser - die Rohstoffgewinnung

Die Gingster Innungsweber waren auf Leinenstoffe spezialisiert. Für die feinen Damaste stellten sie die sehr dünnen und gleichmäßigen Leinengarne nicht selbst her. Aber für gröbere Stoffe baute man Flachs vor Ort an. Nach der Ernte wurde in vielen Schritten die Rohfaser gewonnen und später handversponnen.

3. Schlafkammer der Weber: Mehrere in einem Bett auf Öko-Polstern

Das Wohnen der Weberfamilie war beengt. Das Ausziehbett für mehrere Personen, die „Bettlade“ war platzsparend. Um das Bett zu polstern, benutzte man nachwachsende „Öko“- Materialien wie Stroh, Seetang, Federn oder Roß(Pferde)haar. Fließendes Wasser gab es nicht. Man benutzte einen Waschkrug mit -schüssel und den Nachttopf, denn das Herzhäuschen war auf dem Hof.- Die meisten der Gingster Weber wohnten „op de Wiek“, heute Wiekstraße.

Die Weber sprachen Plattdeutsch. Das Gedicht über das Leinenhemd ist eine entsprechende Schriftquelle. Viele Fachbegriffe haben noch heute eine übertragene Bedeutung (Abb. „Textiles Reden“).

4. Küche der Weber: Feuerstelle, Küchenleinen und internationales Geschirrdekor

Statt des um 1900 aufgestellten Kohleherdes muss es ursprünglich eine Rauchabzugshaube für die offene Feuerstelle („schwarze Küche“) gegeben haben. Ein typisches Möbel für die Zeit um 1800 ist der Vorratsschrank mit Lüftungsschlitzen. Brotbeutel und Handtuchvorhang sind aus handgesponnenem und gewebtem sowie besticktem Leinen. Die aus Museumsbestand zusammengestellten verschiedenen Geschirr-Dekore reichen bis ins 20. Jahrhundert: Das Zwiebelmuster ist ein interkulturelles Missverständnis, es müsste „Granatapfelmuster“ heißen. Aufgezeigt wird auch, wie die chinablauen Windmühlen in Vorpommersche Küchen kamen und noch heute eine beliebte, nostalgische Dekoration sind. Am jüngsten sind die Schablonenmuster des Jugendstils und des Art Deko.

5. Von Rohfasern zum Stoff: Kett- und Schussfaden

Das Kämmen heißt bei Flachs „hecheln“ und bei Wolle „kardieren“. Danach erfolgt bei beiden Fasern das Spinnen, Zwirnen und Wickeln auf Haspeln, Knäule oder Spulen. Letztere werden in die Weberschiffchen gelegt und ergeben den SCHUSS quer zur KETTE. So entsteht die einfache LEINWANDBINDUNG. Wie beim Stopfen oder Flechten ist das Drunter und Drüber der Fäden das Grundprinzip des Webens. Mustervariationen entstehen durch Überspringen von mehreren Kett- und/oder Schussfäden. Die präsentierten Webstühle können bis zu fünf Schäfte/Kämme aufnehmen. Durch deren sich abwechselnde Löcher und Schlitze werden die Kettfäden gezogen. Es ergeben sich entsprechend viele mit den Pedalen-/Tritten gesteuerte Hebe- und Senkvariationen. Die weiteren Muster sind Rips-, Köper- oder Atlas-Bindung.

6. Stoffe und fertige Textilien: Raue Pommernwolle und glänzender Damast

Wollgarne, damals oft von den grauen Pommernschafen, wurden verstrickt und verhäkelt oder verwebt (Aufsatzvitrine). Relativ einfache Webmuster wie Streifen, Karos oder Gerstenkornvarianten kann man an der Meterware von Hand- und Tischtüchern gut nachvollziehen (Wandvitrine). Die typischen Gingster „Block/Stein“-Muster sind eine Kombination aus Leinen- und Köper-Bindung („Drell“). Dieses Muster weist auch der zu Pichts Zeiten gewebte und bestickte Handtuchvorhang von 1796 auf (Standvitrine). Einen hier gewebten Damaststoff besitzt das Museum nicht. Es gibt nur Schriftquellen von J. G. Picht, E. M. Arndt und J. J. Grümbke, welche die Üppigkeit der figürlichen Muster und die große Nachfrage loben.

Die traditionsreichen Stoffe aus Wolle und Leinen erfahren gegenwärtig ein Revival. Ihr ökologischer Fußabdruck ist viel geringer als der von Synthetikgewebe. Damit sind diese Fasern eine müllarme Alternative. Für die damalige Weberinnung war „Bio“ alternativlos und „Faires Handeln“ untereinander ein Bestreben. - Anhand der verschiedenen Fäden des Stoffes lässt sich Gingster Geschichte erschließen-.